Es war eine wunderbare Verleihung des Gerstäckerpreises an Anja Reumschüssel für ihr Buch »Über den Dächern von Jerusalem«. In der Dornse im Altstadtrathaus ist es natürlich immer wieder ein wunderschönes Ambiente für diese Veranstaltung: schöne Reden, die ans Herz gingen von Bürgermeisterin Anke Kamphammel, Martin Schäuble und der Autorin persönlich. Besonders stolz sind wir natürlich, dass vier unserer Leseclub-Kids die Jugendjury gestellt haben und Elska und Hanna eine Laudatio gehalten haben.
Begründung der Jury:
»Über den Dächern von Jerusalem« ist ein sprachlich und inhaltlich exzellentes Buch, das auf nahbare und authentische Weise die gemeinsame Geschichte Israels und Palästinas und ihre bis heute andauernde Auswirkung näherbringt. Die Journalistin Anja Reumschüssel, die bereits einige Sachbücher für Jugendliche veröffentlicht hat, erzählt in ihrem Romandebüt über den Nahostkonflikt in zwei verschiedenen Zeitebenen.
1947/48 kommt die 15-jährige Jüdin Tessa, die den Holocaust überlebt hat, als Halbwaise nach Jerusalem und lernt dort den gleichaltrigen arabischen Jungen Mo kennen, mit dem sie sich anfreundet. Im Jahr 2023 begegnet die 18-jährige Soldatin Anat, die gerade in der israelischen Armee ihren Wehrdienst ableistet, im Westjordanland dem 15-jährigen Palästinenser Karim.
Bei den LeserInnen entsteht eine emotionale Verbindung zu den Charakteren, die es ermöglicht, die komplexen Zusammenhänge des aussichtslos erscheinenden Konflikts und die verschiedenen Sichtweisen anzunehmen und einzuordnen. Die Autorin, die zeitweise selbst an Schauplätzen ihres Romans gelebt hat, hat Gespräche mit Konfliktbeteiligten auf beiden Seiten geführt. Zusätzlich hat sie historische Fakten in die Romanhandlung eingewoben. Gerade in diesem Kontext ist das umfangreiche Nachwort mit Referenzen und Quellenangaben hervorzuheben. »Über den Dächern von Jerusalem« ist ein Buch, das Menschen jeder Altersklasse sehr bewegen kann und dessen dargestellter Konflikt nach der Veröffentlichung noch deutlich an Brisanz zugenommen hat.
Weil es so schön ist, könnte Ihr hier die Begründung der Jugendjury nachlesen:
Ich möchte Sie nun einmal bitten sich an den 7. Oktober 2023 zu erinnern.
Ich weiß noch genau, wo ich an diesem Tag war. Wie ich angesichts dieses Terrors erstarrt war.
Wie ich in den Nachrichten weg schaute. Ich weiß noch, wie ich es einfach nicht ertrug diese Bilder zu sehen.
Diesen Hass. Diesen entmenschlichenden Hass.
Als wir einige Wochen später Nachrichten schauten war meine kleine Cousine dabei.
„Wer ist da eigentlich der Gute und wer ist der Böse?“ fragte sie.
So eine einfache Frage. Wer ist der Gute, wer ist der Böse?
Das war der Moment in dem ich Begriff, dass ich ihre Frage nicht beantworten konnte.
Aber wie sollte ich einer siebenjährigen erklären, dass beide Seiten Fehler gemacht haben.
Schlimme Fehler. Terror Fehler.
Wie erzähle ich von der Unterdrückung Palästinas? Und wie von dem Terror der Hamas?
Wie erzähle ich ihr von den toten Kindern, von den Geiseln, von dem Hunger und von den Vergewaltigungen.
Ich wusste es nicht. Wie sollte ich einem Kind erklären, dass Menschen sich so etwas antun können.
Also gab ich die Antwort, die wir alle als Kind immer so gehasst haben. „Es ist kompliziert“
Und das meinte ich nicht als Ausweg. Denn dieses Mal ist es wirklich kompliziert.
Nicht nur wegen des Hasses. Auch, weil wir in Deutschland leben.
Es waren unsere Vorfahren die 6 Millionen Juden umbrachten, die Menschen zwangen sich eine Neue Heimat zu suchen.
Unsere Vorfahren, die den Menschen ihre Menschlichkeit absprachen und für ihre Ideologie einen Weltkrieg begannen.
Immer wieder wird gesagt, dass wir Israel gegenüber eine historische Verantwortung haben.
Und das stimmt. Aber das ist noch nicht alles.
Wir haben auch die Verantwortung, dass nie wieder jetzt ist. Wir haben die Verantwortung, uns gegen den Faschismus zu erheben.
Für die Opfer von Hass und Gewalt einzustehen.
Die Verantwortung, dass Menschen, die terrorisiert, verfolgt und ermordet werden bei uns eine Zuflucht finden können.
Unsere Vorfahren haben weggesehen und geschwiegen. Wir haben die historische Verantwortung hinzusehen und aufzustehen.
Diese Laudatio war der schwerste Text, den ich jemals geschrieben habe.
Ich bin 17. Dieser Konflikt ist 5 mal so alt wie ich.
Lange Zeit machte ich mir immer mal nur ein paar kleine Notizen, begann einen Absatz und löschte ihn wieder.
Nicht weil ich nichts zu diesem Buch zu sagen hatte oder es nicht gut war, im Gegenteil.
Aber die Gründe, dass dieses Buch geschrieben wurde sind Krieg, Unterdrückung und Leid. Es sind keine schönen Gründe, um ein Buch zu schreiben, aber es sind wohl die Wichtigsten.
Liebe Frau Reumschüssel, danke, dass sie „Über den Dächern von Jerusalem“ geschaffen haben,
Denn dieses Buch kann etwas, dass kein Geschichtsbuch oder Politikwissenschaftlicher Text jemals können wird.
Es zeigt uns die Menschen. Hinter den Orten und Daten. Man liest nicht nur über eine Mauer, einen Sprengstoffattentat in einem Hotel, Soldaten mit Maschinengewehren, junge Männer mit Steinschleudern und eine erstochene Familie. Nein, man liest auch über Tomaten an Fensterscheiben, über einen kleinen gebratenen Vogel, über das beste Humusrezept und über eine internationale Party.
Wir lesen nicht nur über zwei verfeindete Lager. Wir lesen auch über junge Menschen, die es eben doch schaffen Freunde zu werden.
Jugendliche, die trotz ihren unterschiedlichen Welten ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Hass versucht uns weiß zu machen, dass „die anderen“ keine Menschen seien.
Sie seien minderwertig. Oder sie sind Monster. Hass entmenschlicht.
Aber wir sind alle Menschen, wir alle wollen für uns und diejenigen, die wir lieben das bestmögliche Leben.
Und am Ende handelt dieses Buch auch gar nicht von dem Hass, sondern davon, wie aus Fremden Freunde werden.
Auf einem Dach in Jerusalem.
von Elska Dorge und Hannah Schäfer (Mitglieder der Jugendjury)