Die Laudatio von Daniel Kaiser anlässlich der Preisverleihung des Gerstäcker-Preises 2022 an Kirsten Boie.
Liebe Kirsten Boie!
Lieber Oberbürgermeister Dr. Kornblum!
Sehr geehrte Damen und Herrn!
„Gelogen. Alles gelogen.“
Da habe ich beim Lesen zum ersten Mal richtig geschluckt. Kirsten Boie unternimmt erst gar nicht den untauglichen Versuch des Sugar Coatings – des freundlichen Herumformulierens. Nein, Traute lügt, weil sie unbedingt mit den Jungs Fußball spielen will, die aber keine Lust auf Mädchen haben und ihre fußballerische Kompetenz bezweifeln. Sie hat behauptet, sie habe oft mit ihrem Vater gekickt, wenn er auf Heimaturlaub war.
„Gelogen. Alles gelogen.“
Wir sind nah dran an Traute, an ihrer Sehnsucht nach Gesellschaft mit Gleichaltrigen. Wir sind nah dran an den Gefühlen und den Extremen jener Tage.
„Gelogen. Alles gelogen.“
Das ist keine Anklage. Hinter diesen Worten stecken Verständnis und Nachsicht.
Wir sind mittendrin in der Katastrophe. Wir erleben die Tage nach dem Kriegsende in einer zerstörten Stadt: Spielen, Leben, Hunger in Hamburgs Trümmern im Juni 1945. Kirsten Boie erzählt von den Davongekommenen. Die Leserinnen und Leser erleben diese Stunde Null aus der Sicht junger Menschen.
Da ist Jakob, der jüdische Junge, der sich in der Ruine eines zerbombten Hauses versteckt und denkt, es sei noch Krieg. Woher soll er auch wissen, dass er gerettet ist? Herr Hoffmann versorgt
ihn mit Essen. Der hat sich aber schon einige Zeit nicht mehr blicken lassen. Ist er erwischt worden?
Da ist Herrmann, eben noch wichtigpopichtiger Hitlerjunge mit Macht, jetzt fehlt die Hakenkreuz-Armbinde an seinem braunen Hemd. Hermann ist einer, der mit der Nazi-Ideologie aufgewachsen ist, sie verkörpert und die ganzen „Hart wie Kruppstahl“-Sprüche internalisiert hat. Er schaut mit Verachtung auf die englischen Soldaten, die jetzt in ihren Jeeps durch die Stadt fahren – die neuen Herren im Land.
Und da ist Traute, die nun ohne Freundinnen dasteht, die wahrscheinlich in den Bombennächten in ihren Häusern begraben wurden, die ein Brot, ein kostbares Brot aus der Bäckerei ihrer Eltern stiehlt, nur weil sie sich damit bei den Jungs beliebt und interessant machen will, und so andere in Gefahr bringt.
Diese drei begegnen sich in den Trümmern.
Kirsten Boie entwirft ein Panorama der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ersten Tage und Wochen nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur, einer Welt, in der alles plötzlich anders ist und sich herausstellt, dass die Wirklichkeit gar nicht die Wirklichkeit war.
Und Kirsten Boie schont die Leserinnen und Leser nicht. Herrmanns kriegsverehrter Vater Fiete hat seine Beine verloren, ist zynisch und verzweifelt. Unerträglich, wie er von seiner Frau eheliche Pflichten einfordert. Gerade jetzt. Herman muss ihn auf die Schultern nehmen und auf die Toilette tragen. Das gelingt nicht immer rechtzeitig. Es tut weh beim Lesen.
Das ist die große Kunst Kirsten Boies, uns nah an die Konflikte, Gefühle und Sehnsüchte der jungen Leute aber auch der Erwachsenen heranzuführen. Und das ganz ohne Pathos und ohne Kitsch. Es gelingt ihr, in einfachen Worten plastisch und hautnah die kleinen und großen Krisen dieser Tage nachzuempfinden. Sie
erzählt von jungen Leuten, die versuchen, rational zu handeln im großen, ganzen Irrationalen und Surrealen.
Elegant, wie da en passant Themen gestreift werden: Wenn Hermanns Mutter arbeiten muss und möchte und Schwierigkeiten hat, weil sie eine Frau ist. Oder auch die Nebenfigur Herr Hoffmann, der Jakob hilft, und man fragt sich: Warum? Und nach und nach werden seine Motive aufgeblättert und man eintaucht in Loyalitätskonflikte der Nazi-Zeit. Wie ist das mit richtig und falsch, mit gut und schlecht, in einer Welt, die nur aus Trümmern besteht – draußen und drinnen? Kirsten Boie schildert das zu Herzen gehend und rührend.
Sie findet Worte für die Traumata und Traurigkeiten des Krieges. Wie der kleine Adolf, ein Junge, der plötzlich auf der Straße beim Spielen auftaucht, und dessen seltsamer Dialekt, wenn er statt „gewesen“ „jawesen“ sagt, darauf deutet, dass er aus dem Osten geflüchtet ist, und wie dieser Junge beim Fußballspielen plötzlich beginnt zu weinen und nicht mehr aufhören kann. Und sogar Herrmann, Hitlerjunge a.D., begreift wohl, dass das hier ein Kummer ist, über den man nicht lachen darf, auch wenn man ihn nicht versteht. Schwestern, Brüder, Mütter, Väter. Viele sind tot. „Sie sind an der Front geblieben, in den Bombennächten umgekommen, auf den langen Flüchtlingstrecks von Tieffliegern erschossen, untergegangen wie die Wilhelm Gustloff, die mit 10.000 Menschen an Bord torpediert worden war. Da darf einer schon weinen.“
Es sind immer wieder Sätze der allwissenden Erzählerin, die eben ganz genau hinschaut, auf das Leben und die Umstände – immer schon, es sind immer wieder diese Sätze, die einem kurz und prägnant die Schuhe ausziehen.
„Da darf einer schon weinen.“
Oder als Traute, die aus der Bäckerei ihres Vaters ein kostbares Brot stiehlt, beschuldigt wird aber Frau Makuleit, eine Vertriebene aus Ostpreußen, die mit alter Mutter und Kind zwangseinquartiert in
Hamburg lebt. Erst macht sich Traute noch lustig über die Sprache („Ach Marjellche!“). Und dann nähern sie sich an – die Alteingesessenen und die „Fremden“. Mich haben gerade diese Passagen angerührt, weil sie ein Echo des Sounds meiner eigenen Familie sind, die aus Königsberg kam, die Fremde waren und zwangseinquartiert wurden und auch „Marjellchen“ und “jawesen“ sagten. Das Buch wurde mir zu einem Resonanzraum auch meiner eigenen Familiengeschichte.
Die Wahrheit ist doch: Ein gutes Jugendbuch fesselt auch Erwachsene. Nach „Dunkelnacht“, diesem erschütternden, dokumentarischen Roman über die letzten Tage des Krieges in Penzberg, ist Kirsten Boie mit „Heul doch nicht, Du lebst ja noch“ wieder ein herausragendes Buch gelungen, das uns von einer fremden, fernen Zeit erzählt, die aber in Wahrheit nicht nur jüngste Geschichte, sondern lebensnah ist.
Die vielleicht spannendste Figur ist Hitlerjunge Hermann: Wie Kirsten Boie über Hermanns Nazi-Denken schreibt und seinen Judenhass, ist das ein Ritt auf der Rasierklinge. Und er gelingt. Man versteht Hermann in seinem Konflikt. Kirsten Boie nimmt die Leserinnen und Leser hinein in das erschütternde und nunmehr erschütterte Denken eines Jungen, der in der Nazipropaganda aufgewachsen ist. Und man versteht, wie schwer es für einen wie Hermann sein muss, jetzt neu und anders zu denken.
Ich habe das Buch jetzt dreimal gelesen. Ich war dreimal gerührt.
Der Friedrich-Gerstäcker-Preis zeichnet Bücher aus, die Jugendlichen „die Begegnung mit fremden Welten fantasievoll vor Augen führen und dabei die Gedanken der Toleranz und Weltoffenheit in der Auseinandersetzung mit anderen Traditionen, Religionen und Wertvorstellungen in sprachlich anspruchsvoller Form näherbringen“.
Fremd ist Jakobs, Herrmanns und Trautes Welt, weil sie scheinbar Lichtjahre von unserer prosperierenden, demokratischen Gegenwart entfernt ist. Insofern passt die Definition der Preisstifter
wie angegossen. Für sich ist dieses Buch schon starke Erlebnis-Literatur.
Und dann kommt der Krieg: Der Überfall Russlands auf die Ukraine. Krieg und Trümmer sind nicht mehr Gegenstand historischer Bilder in Schwarzweiß. Die Geschichte vom Leben in einer zerstörten Welt, vom Hausen in Trümmern, von Verblendung und Versehrtheit ist aktuell.
Mit „Heul’ doch nicht, Du lebst ja noch“ hat Kirsten Boie einen Jugendroman der Stunde geschrieben, der von jungen Leuten in Trümmern und am Abgrund erzählt und letztlich von den großen Dingen handelt: Freundlichkeit, Toleranz und Empathie – angesichts widrigster Lebensumstände. Es geht – wie unter einem Brennglas – um das menschliche Miteinander, um das gelungene Leben, wenn auf nichts anderes mehr Verlass ist. Ein Buch ist das, das sich als Pflichtlektüre in Schulen empfiehlt. Pflichtlektüre klingt so verordnet. Was ich meine ist: Lust-Lektüre!
Da werden keine Zeigefinger erhoben, da wird auf niemanden selbstgerecht gezeigt. Kirsten Boie schildert und fragt unaufdringlich: „Was hättest Du denn getan?“ Und öffnet Augen für das zerbrechliche, angefochtene Leben des andern. Es ist ein Buch, das beginnt, in Herz und Kopf arbeiten – ein Roman, der beispielhaft ist für die große Kunst Kirsten Boies.
Sie ist eigentlich gelernte Lehrerin, muss aber ihre Lehrertätigkeit aufgeben – weil sie ihr erstes Kind adoptiert hatte. Die Behörden hatten das gefordert. So unchristlich waren die Zeiten. Kirsten Boie beginnt zu schreiben. 1985 erscheint ihr erstes Buch: Paule ist ein Glücksgriff über einen adoptierten Jungen wurde sofort ein Erfolg. Kirsten Boie schreibt immer wieder Lebensgeschichten – Geschichten aus der Wirklichkeit.
Und anders als Stars und Sternchen, aber ebenso gerade Eltern gewordene Literaten, die auch mal ein Kinderbuch schreiben wollen, so, als sei Literatur für Kinder eine Fingerübung für Anfänger, weil man weniger Erwachsenen-Worte benutzen muss
und es keiner thomasmannartigen Komplexität bedarf, zeigt sich in Boies Büchern eine selbstverständliche, kinderkompatible Virtuosität im Umgang mit Sprache und Geschichten.
Kirsten Boie nimmt ihre Leserinnen und Leser ernst. Sie unterhält sie und fordert sie. Ihre Bücher machen Freude
Schon viele Preise und Ehrungen hat Kirsten Boie erhalten. Sie ist auch Ehrenbürgerin der Freien und Hansestadt Hamburg, eine Auszeichnung, die früher eigentlich ausschließlich Militärs und Politkern zuteilwurde. Ein Hoffnungszeichen mag es sein, dafür, dass langsam eingesickert ist, wer und was hier eigentlich wirklich systemrelevant ist. Es geht ihr um mehr als um die Fertigkeit unterhaltsame, erbauliche Bücher zu schreiben. Lesen ist für Kirsten Boie ein Lebensthema.
„Jedes Kind muss lesen lernen“ ist eine Bewegung, die eine große Bildungskrise in Deutschland in den Blick nimmt: Knapp ein Fünftel der Zehnjährigen kann nicht so lesen, dass sie einen Text auch verstehen. Das ist eine dramatische Zahl. Wenn ein Fünftel der jungen Leute nicht mehr richtig lesen kann, wird das schon bald Konsequenzen haben, die wir in unserer Gesellschaft spüren werden. Lesen ist eine Schlüsselkompetenz für eine aufgeklärte, demokratische Gesellschaft. Das scheint noch nicht in allen Politikerinnen- und Politikerköpfen in angemessener Lautstärke angekommen zu sein. Diese Zahlen sind gesellschafts- und letztlich demokratiegefährdend.
Darauf macht Kirsten Boie unermüdlich aufmerksam. Zum Glück umfasst die Ehre, Hamburger Ehrenbürgerin zu sein, auch das lebenslange Recht, den öffentlichen Nahverkehr der Stadt kostenlos zu nutzen. Ein Privileg, das sie weidlich ausnutzt. Und so ist Kirsten Boie keine, die in ihrem Kämmerlein Bücher schreibt zum Amüsement von Kindern. Sie geht mit ihrer Ehrenbürgerschaft, ihrer Kompetenz, ihrer Prominenz in die Diskussion und auf Mission. Kirsten Boie sammelt Unterschriften, geht in Schulen und das Wichtigste: Sie schreibt wunderbare, unwiderstehliche Bücher wie dieses. Sie steht in Kontakt mit ihren jungen Leserinnen und
Lesern, und sie lässt sich zu Fortsetzungen der Buchreihen ermuntern und inspirieren.
Sie ist eine herausragende Stimme der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur.
Liebe Kirsten!
Dein Engagement ist ein großes Geschenk für unser Zusammenleben.
Wir danken Dir für Deine Literatur, für Deine Bücher und besonders für diesen aufwühlenden, sehr tröstlichen Roman.
Herzlichen Glückwunsch zum hochverdienten Friedrich-Gerstäcker-Preis!
Vielen Dank!